31

 

Andreas Reichen wartete mit zwei Mercedes-Geländewagen auf der Landebahn des Flughafens Berlin Tegel auf sie. Tegan machte eine schnelle Vorstellungsrunde, während die Krieger ihre Sachen hinten in die Fahrzeuge warfen und dann Platz nahmen für die Fahrt zu Reichens Dunklem Hafen, der als vorübergehendes Hauptquartier der Operation fungieren würde.

„Es ist mir eine Ehre, Sie zu unterstützen“, sagte Reichen zu Lucan und Tegan, als die drei Männer die letzten Gepäckstücke und Waffenkisten verluden. „Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl wäre, an der Seite des Ordens zu kämpfen.“

„Seien Sie vorsichtig, was Sie sich da wünschen“, knurrte Lucan. „Kommt darauf an, wie die Dinge laufen, aber die Chancen stehen gut, dass wir Sie auf dem Schlachtfeld rekrutieren müssen.“

„Schau lieber nicht so begeistert“, sagte Tegan, dem das begierige Aufblitzen in den Augen des Zivilisten nicht entging.

„Was gibt’s Neues aus der Hochsicherheitsanstalt?“

Reichen schüttelte den Kopf. „Eine absolute Sackgasse, fürchte ich. Odolfs Zustand hat sich erheblich verschlimmert. Die Blutgier hat ihn noch stärker gepackt - er hat schlimme Krampfanfälle bekommen, sogar mit Schaum vor dem Mund.

Dem Betreuer, mit dem ich geredet habe, kam es sehr seltsam vor, es war, als wäre Odolf tollwütig geworden. Wenige Stunden später hat man ihn in die Leichenhalle gerollt.“

„Scheiße.“ Tegan wechselte einen schnellen Blick mit Lucan, ihm sträubten sich die Nackenhaare. Dieser Bericht klang verdächtig nach Marek. „Was für Schaum war das, den Odolf gespuckt hat? War er rosa und stank?“

Reichen runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht. Ich könnte noch einige Nachforschungen anstellen, ein paar Erkundigungen einholen …“

„Nein, vergiss es. Diese Informationen genügen mir“, sagte Tegan.

Lucan wusste genau, worauf er hinauswollte. „Du denkst doch nicht, dass diesem Rogue Crimson verabreicht wurde …“

„Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Ich bin in ein paar Stunden zurück.“

„Aber dann wird es schon hell“, warnte Lucan.

Tegan sah in den immer noch dunklen Nachthimmel hinauf, der Mond wanderte bereits tief in den Westen. „Dann sollten wir besser aufhören zu quatschen, damit ich hier rauskomme.

Ich sehe euch später im Dunklen Hafen.“

„Tegan. Verdammt noch mal …“

Er hörte Lucans knappen Fluch hinter sich, aber da hatte er schon die Landebahn überquert und bewegte sich durch den Flughafenkomplex auf die Straßen draußen zu.

 

Dr. Heinrich Kuhn, der Anstaltsleiter, war in seinem Büro in der Hochsicherheitsklinik und füllte gerade die Sterbeurkunde für die Leiche seines kürzlich verstorbenen Patienten aus, als der hektische Anruf des Sicherheitsdienstes kam. Es hatte eine unbefugte Überschreitung der Mauer gegeben. Ein Stammesvampir - der Größe und Kraft nach ein Gen-Eins-Krieger - hatte sowohl die äußeren als auch die inneren Tore überwunden und bewegte sich nun frei auf dem Anstaltsgelände.

„Schießbefehl mit Tötungsabsicht, Dr. Kuhn?“, fragte der Leiter des Sicherheitsdienstes; er klang nervös.

„Nein“, erwiderte Kuhn. „Nein, er soll nicht getötet werden.

Aber fangen Sie ihn um jeden Preis ein und bringen Sie ihn mir.“

Kuhn legte auf. Er hatte keinen Zweifel daran, um wen es sich bei diesem Eindringling handelte. Er war gewarnt worden, dass der Orden nicht lange auf sich warten lassen würde, sobald die Nachricht von Peter Odolfs Tod sich auszubreiten begann.

Er bedauerte es, dass er dem Krieger namens Tegan Zutritt zur Anstalt gewährt hatte - ihm und der Frau von der Agentur. Es war seine Aufgabe, seine Patienten zu beschützen, vor Unruhe von außen und von innen. Was Peter Odolf anging, hatte er dabei versagt, aber sein größter Fehler hatte darin bestanden, dessen letzten Besucher einzulassen.

Die Angst vor diesem letzten Besucher war es, die den Anstaltsleiter jetzt dazu brachte, ruhelos in seinem Büro auf und ab zu gehen. Irgendwie, gegen all seine Prinzipien, hatte er sich für eine Verschwörung rekrutieren lassen, die mit dem entsetzlichen Leiden und anschließenden Tod von Peter Odolf geendet hatte.

Kuhn war ein ähnliches Los in Aussicht gestellt worden, wenn er sich seinem neuen, tödlichen Bekannten nicht gefügig erwies.

Vielleicht täte er gut daran, sich aus dem Staub zu machen, bevor die Situation noch weiter eskalierte. Es war schließlich schon gefährlich kurz vor der Morgendämmerung, und er hatte wirklich nicht den Wunsch, hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass noch mehr Schwierigkeiten auf seiner Türschwelle landeten.

Zu spät, dachte er keine Sekunde später.

Kuhn wusste nicht genau, wann er den ersten Luftzug um sich spürte, aber als er sich zu seiner geschlossenen Bürotür umdrehte, starrte er in tödliche grüne Augen.

„Guten Morgen, Herr Kuhn.“ Das Lächeln des Kriegers war eiskalt. „Ich habe gehört, dass Sie in Ihrem kleinen Tollhaus ein paar Probleme hatten.“

Kuhn wich zentimeterweise hinter seinen Schreibtisch zurück. „Ich … ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen.“

In einer fließenden, blitzschnellen Bewegung flog der Krieger durch den Raum und landete in geduckter Haltung oben auf dem Schreibtisch. „Peter Odolf ist tot. Ist Ihnen das entgangen?“

„Nein“, erwiderte Kuhn, der soeben erkannte, dass er von diesem Mann mindestens genauso viel zu befürchten hatte wie von dem anderen, der Odolf auf dem Gewissen hatte. „Es ist äußerst bedauerlich, aber er war sehr krank. Schlimmer, als ich angenommen hatte.“

Vorsichtig ließ der Anstaltsleiter die Hand unter die Tischkante gleiten und suchte nach dem Knopf, der einen stummen Alarm auslöste. Kaum hatte er den Gedanken gefasst, als ihm auch schon eine scharfe Klinge das Kinn hochdrückte.

„Das würde ich sein lassen, wenn ich Sie wäre.“

„Was wollen Sie?“

„Ich will die Leiche sehen.“

„Wozu?“

„Damit ich weiß, ob Sie sterben müssen oder nicht.“

„Oh Gott!“, jammerte Kuhn. „Bitte, tun Sie mir nichts! Ich hatte keine Wahl - ich schwöre es Ihnen!“

„So, Sie schwören.“

Tegan schnaubte verächtlich. Der Dolch an Kuhns Kehle löste sich, aber nur, um einem harten Würgegriff zu weichen.

Durch diesen Kontakt fuhr eine Hitze in Kuhn - ein Gefühl, als ob sein Innerstes gewaltsam geöffnet und ausgesaugt würde, summte wie ein Mückenschwarm in seinem wirren Kopf.

Die kalten grünen Augen, die sich in Kuhns angstgeweiteten Augen bohrten, wurden schmal. „Du verlogener Hundesohn.

Du und Marek …“

Mit einem splitternden Krachen wurde die Tür von Kuhns Büro aufgebrochen. Eine plötzliche Salve von Schüssen ertönte.

Nicht weniger als vier bewaffnete Sicherheitsleute drangen in den Raum ein und eröffneten das Feuer auf Kuhns Angreifer.

Der Krieger brüllte auf, als die Wachen gleichzeitig ihr Ziel trafen. Sobald sich der Griff um seine Kehle zu lösen begann, wich Kuhn zurück - so weit außer Reichweite des massiven Vampirs wie nur möglich. Mit schuldbewusster Erleichterung sah er zu, wie der Krieger zusammenbrach, vom Tisch rollte und zu Boden fiel.

Ein wortloses Knurren drang aus dem erschlaffenden Mund, die unbarmherzigen Augen verdrehten sich, bis man nur noch das Weiße sah. Jetzt nahm Kuhn all seinen Mut zusammen und näherte sich dem gefallenen Untier. Er starrte hinunter auf die Ansammlung von Betäubungspfeilen, deren Enden aus dem Körper hervorragten.

„Sind Sie in Ordnung, Herr Doktor?“, fragte einer der Wachen.

„Ja“, erwiderte Kuhn, obwohl er immer noch vor Schock zitterte. „Das genügt vorerst. Ich möchte nicht, dass dieser Vorfall in irgendeiner Weise protokolliert wird, haben Sie mich verstanden? Es ist nichts vorgefallen. Ich werde dafür sorgen, dass der Eindringling vom Anstaltsgelände entfernt wird.“

Nachdem die Wachen gegangen waren, zog Heinrich Kuhn das Handy aus der Tasche, das man ihm gegeben hatte und drückte die Kurzwahltaste, um die einzige Nummer zu wählen, die in das Gerät einprogrammiert war. Als die tiefe Stimme am anderen Ende antwortete, sagte Kuhn: „Etwas Interessantes ist gerade hereingekommen. Wohin darf ich es Ihnen liefern?“

 

Lucan wusste, dass etwas nicht in Ordnung war, noch bevor die Nacht der Morgendämmerung wich. Jetzt, einige Stunden vor Mittag, konnte er nur mit dem Schlimmsten rechnen. Es war nicht untypisch für Tegan, sich im Alleingang auf einen persönlichen Streifzug zu begeben, aber dieses Mal war er völlig von der Bildfläche verschwunden. Er war nicht von der Hochsicherheitsanstalt zurückgekehrt. Er hatte sich nicht zurückgemeldet, und er hatte nicht einmal per Handy von sich hören lassen, wo er steckte oder in was für einer Scheiße er gelandet war.

Anrufe in der Anstalt waren nutzlos gewesen. Jede Person, mit der Lucan dort gesprochen hatte, hatte erklärt, Tegan sei nie in der Anstalt angekommen. Und was Informationen über Odolfs Tod anging, waren alle Anfragen an den Anstaltsleiter persönlich zu richten, einen gewissen Heinrich Kuhn, der tagsüber nicht zu erreichen war und erst bei Einbruch der Nacht an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde.

Lucan hatte für bürokratisches Tauziehen nichts übrig, und schon gar nicht jetzt, da sich in ihm das ungute Gefühl ausbreitete, dass Tegan in ernsten Schwierigkeiten steckte.

„Immer noch nichts?“ Dante kam aus dem Raum, in dem der Rest des Ordens und Reichen die Fahrt nach Prag durchsprachen, die für diese Nacht geplant war. Als Lucan den Kopf schüttelte, stieß der Krieger einen Seufzer aus. „Ich weiß, dass diese Mission heikel ist, aber verdammt noch mal, ich will Tegan nicht zurücklassen. Ich habe kein gutes Gefühl dabei.“

„Das werden wir auch nicht.“ Lucan sah in die ernsten Gesichter seiner Brüder. „Ich brauche dich und Chase, um die Mission anzuführen. Ich bleibe hier und lokalisiere Tegan.“

„Wie willst du das angehen? Wir haben keine Ahnung, wo er steckt, oder ob er überhaupt noch in der Stadt ist. Wenn du die ganze Stadt nach ihm absuchen willst, wird das ewig dauern.“

Lucan schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich kenne eine bessere Art, ihn zu finden.“

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